Geschichte der Turkologie
Geschichte der Turkologie und türkischen Studien in Göttingen
Die Anfänge der türkischen und sibiristischen Studien in Göttingen
Die Forschungen zu den Sprachen und Kulturen der Turkvölker können in Göttingen auf eine sehr lange Tradition zurückblicken. Diese reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück und war auf das Engste verbunden mit dem bedeutenden Anteil, den Göttinger Gelehrte an der wissenschaftlichen Erschließung Sibiriens hatten. Zu nennen sind hier bloß die großen Sibirien-Reisenden und Sammler von Handschriften und Ethnographica Georg Thomas von Asch (12.04.1729 - 23.06.1807), Peter Simon Pallas (22.09.1741 - 08.09.1811), Johann Eberhard Fischer (10.01.1697 - 13.09.1771) und August Ludwig von Schlözer (05.07.1735 - 09.09.1809), die allesamt entweder in Göttingen gewirkt haben oder mit der Universität Göttingen in besonderer Weise verbunden waren. Im 18. und 19. Jahrhundert bildeten die frühen türkischen Studien allerdings noch keine eigenständige Forschungsrichtung, und sie waren in Göttingen nicht zu trennen von der Erforschung der mongolischen, tungusischen und uralischen Völker und Sprachen. Allerdings gelangten schon in dieser Zeit im Zuge einer ausgedehnten Sammeltätigkeit auch zahlreichen Materialien aus der Turcia nach Göttingen. Neben Anschauungsobjekten, die ihren Weg in die Sammlungen fanden, waren es vor allem die Aufzeichnungen der Sibirien-Reisenden. So entstand hier mit A. L. von Schlözers Arbeit über die Komanen („Die Geschichte der Kumanen”, 1795 - 1797) eine der frühesten turkologischen Arbeiten überhaupt – rund ein Jahrhundert bevor der Begriff „Turkologie” aufkam.
Türkische Studien in Forschung und Lehre
Während die Forschungen im 18. und frühen 19. Jahrhundert auf das Sammeln und das eher begrenzte Auswerten der zusammengetragenen Materialien beschränkt blieben, fanden die türkischen Studien seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Göttingen auch Eingang in die Lehre. In dieser Zeit bestand noch keine Lehr- und Forschungseinrichtung, in der die türkischen Studien betrieben wurden. Es waren vielmehr verschiedene Gelehrte, die sich den orientalischen Sprachen zuwandten und hierbei gelegentlich auch das Osmanische behandelten und Lehrveranstaltungen mit osmanistischen Inhalten anboten. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kam es allerdings zu einigen Entwicklungen, die auch für die türkischen und schließlich die turkologischen Studien in Göttingen weitreichende Folgen hatten. Zum einen gelang in den 1890er Jahren die Entschlüsselung der frühen türkischen Inschriften am Orchon und am Jenissej und zum anderen wurden im Zuge der Turfan-Expeditionen nach West-China in den Jahren 1902 - 1914 Tausende von türkischen Handschriften aus vor-islamischer Zeit geborgen. Diese Ereignisse bildeten die Ausgangspunkte für die moderne Turkologie. An der Auswertung der Handschriften aus West-China hatte schließlich auch Göttingen einen Anteil: im Jahre 1903 war der Berliner Iranist Friedrich Carl Andreas (14.04.1846 - 03.10.1930) auf den Göttinger Lehrstuhl für orientalische Sprachen berufen worden und wirkte von hier aus an der Berliner Turfanforschung mit. Zwar war der vielseitig interessierte Andreas vor allem mit der Auswertung der iranischen Handschriften aus den Turfan-Funden befaßt, allerdings stand er auch mit nahezu allen Orientalisten seiner Zeit in Verbindung. Unter diesen befanden sich auch zahlreiche Turkologen, an deren Forschungen er regen Anteil nahm. Er selbst äußerte sich in seinen Beiträgen zum Komanischen und Čagataischen, und vertrat das Osmanisch-Türkische in der Lehre. Mit Andreas erhielten die Göttinger turkologischen Studien erstmals eine „institutionalisierte Form”. Auch der Nachfolger von Andreas auf dem Göttinger Lehrstuhl, der Iranist Walther Hinz (19.11.1906 - 12.04.1992), setzte die turkologische Tradition – zumindest in der Lehre – fort. Hinz unterrichtete zunächst selbst gelegentlich Osmanisch-Türkisch, später verpflichtete er hierfür Lektoren. Eine besonders glückliche Wahl traf er dabei im Jahre 1960 mit dem zu dieser Zeit in Mainz lebenden Habilitanden Gerhard Doerfer (08.03.1920 - 27.12.2003).
Die Göttinger Turkologie und Altaistik unter der Leitung von Gerhard Doerfer
G. Doerfer zog im Jahre 1961 nach Göttingen um, ließ dort 1963 seine Lehrbefugnis auf „Turkologie und Altaistik” erweitern und wurde 1966 zum außerplanmäßigen Professor für diese Forschungsrichtungen ernannt. Schon vor seiner Ernennung hatte sich Doerfer um die Einrichtung eines Lehrstuhls für „Turkologie und Altaistik” bemüht. Diese Anstrengungen führten schließlich am 16. November 1970 mit seiner Berufung zum Ordinarius auf den neu eingerichteten Lehrstuhl zum Erfolg. 1982 konnte der Lehrstuhl dann in ein Seminar umgewandelt werden. Die Einrichtung führt seitdem die bis heute beibehaltene Bezeichnung „Seminar für Turkologie und Zentralasienkunde”. Die Zeit des Wirkens von Doerfer in Göttingen stellte wohl einen der Höhepunkte der turkologischen (und altaistischen) Forschungen in Deutschland überhaupt dar. So wurden von Göttingen ausgehend, im Rahmen der iran-turkologischen Forschungen Doerfers, drei sprachwissenschaftliche Expeditionen nach Iran durchgeführt (1968, 1969 und 1973). Im Zuge dieser Expeditionen konnten zwei bis dahin nahezu unbekannte Turksprachen erstmals identifiziert und genau dokumentiert werden: das Chaladsch und das Chorāsāntürkische. Einen anderen Forschungsschwerpunkt Doerfers bildete die Tungusologie, die von 1972-1985 im Rahmen eines Großprojektes („Nordasiatische Kulturgeschichte”) am Göttinger Seminar betrieben wurde. Im Zuge dieses Unternehmens wurde hierbei erstmals die genaue Stellung mehrerer Sprachen innerhalb der tungusischen Sprachfamilie ermittelt. Die Göttinger tungusologischen Forschungen wurden von Doerfer noch bis in die letzten Jahre seines Wirkens weiter betrieben. Zu diesen Forschungen trat seit der Berufung Doerfers noch die Altaistik, d.h. die vergleichende Lehre von den türkischen, mongolischen und tungusischen Sprachen und Kulturen. Aufgrund der von Doerfer in der sogenannten „altaischen Frage” vertretenen Haltung (und dem am Seminar angesiedelten Projekt „Nordasiatische Kulturgeschichte”) wurde das Göttinger Seminar zeitweilig zum weltweiten Zentrum der Altaistik und erlangte eine Bedeutung, wie sie ein Seminar dieser Größe nur ganz selten zu erreichen vermag. Neben Doerfer wirkte seit 1970 zudem, zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter, seit 1984 schließlich als Professor für Allgemeine Turkologie am Seminar, Prof. Milan Adamović (*07.09.1939) mit, der bis zu seiner Pensionierung im Jahre 2004 das Fach in Forschung und Lehre vertrat. Allerdings wurde von Prof. Doerfer bis über seine Emeritierung hinaus auch die Mongolistik, die ebenfalls eine lange Tradition in Göttingen aufzuweisen hatte, betrieben. Bereits seit den 1940er Jahren wurde am Seminar für orientalische Sprachen auch Mongolisch gelehrt. Es war hier zunächst Prof. Kobayashi, der das Klassische Mongolisch vertrat. Nach der Emeritierung Prof. Doerfers übernahm schließlich der in Bonn wirkende Mongolist Prof. Klaus Sagaster den mongolistischen Lehrbetrieb in Göttingen.
Neue Akzente
Nach der Emeritierung von Prof. Doerfer im Jahre 1988 wurde im Zuge der Neubesetzung des Lehrstuhls 1992 der bis dahin in Gießen wirkende Prof. Klaus Röhrborn (*10.01.1938) an das Göttinger Seminar berufen. Mit dieser Berufung wurden auch einige neue Schwerpunkte in Forschung und Lehre gesetzt. K. Röhrborn hatte zuvor schon verschiedene altturkologische Forschungsprojekte geleitet, die nun in Göttingen angesiedelt wurden. Zu nennen sind hier vor allem die Xuanzang-Forschung und das „Uigurische Wörterbuch”, die heute beinahe synonym für die Göttinger Turkologie stehen. Hinzu traten allerdings noch weitere Projekte, wie beispielsweise die türkei-türkische Neologismen-Forschung. Es wurden aber auch weiterhin die Osmanistik und die Allgemeine Turkologie (vertreten durch Prof. Adamović), die Tungusologie und Altaistik (vertreten durch Prof. Doerfer) und die Mongolistik (vertreten durch Prof. Sagaster) betrieben. Zudem wirkte seit 1993 Prof. Hansgerd Göckenjan (31.08.1938 - 26.11.2005) als Honorarprofessor am Göttinger Seminar mit. Er vertrat hier vor allem die historische Zentralasienforschung.
Gegenwartslage
Infolge der Emeritierung von K. Röhrborn wurde schließlich im Jahre 2008 der bis dahin in Freiburg i. Br. wirkende Prof. Dr. Jens Peter Laut (*06.01.1954) an das Göttinger Seminar berufen. Prof. Laut wiederum brachte mit den Forschungen zur modernen türkischen Literatur und dem Editionsprojekt „Türkische Bibliothek” ganz neue Lehr- und Forschungsschwerpunkte an die Einrichtung. Ungeachtet dieser Innovationen wird am Seminar aber auch die von K. Röhrborn begründete altturkologische Tradition in Göttingen fortgesetzt, und es sind nun noch weitere altturkologische Forschungsprojekte hinzugetreten. So werden heute am Seminar einige der umfangreichsten alttürkischen Texte bearbeitet: die Maitrisimit (unter Leitung von Prof. Laut), die Xuanzang-Biographie (unter Leitung von Prof. Röhrborn) und die Daśakarmapathāvadānamālā (unter Leitung von Prof. Laut). Darüber hinaus besteht seit 2008 bei der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (in enger Kooperation mit dem Seminar) eine „Kommission Manichäische Studien”. Diese verfolgt das Ziel der Untersuchung und Edition sowie der Re-Edition aller alttürkischen Manichaica. Durch all diese Unternehmungen darf Göttingen heute weltweit als das Zentrum der altturkologischen Forschung gelten.
Michael Knüppel