SAECULUM. Jahrbuch für Universalgeschichte
Volume 71 (2021), number 2
Axel T. Paul
Einfache Jäger- und Sammlergesellschaften
Gegenstand des Beitrags ist der Typus einfacher Jäger- und Sammlergesellschaften. Im Fokus stehen dabei nicht die Vielfalt und jeweiligen Besonderheiten einfacher Wildbeutersozietäten, sondern deren gemeinsame und allgemeine Merkmale, allen voran und typenbildend der Verzicht auf systematische Vorratshaltung und die weitgehende Egalität der Gesellschaftsmitglieder. Im Einzelnen dargestellt werden ihre Evolution, vor allem aber die Verflechtung und der Formzusammenhang ihrer materiellen Versorgungsstrategien, ihrer Sozialstruktur und ihres Weltbilds. Ziel dabei ist weniger die Präsentation neuer Erkenntnisse als vielmehr eine historisch-elementarsoziologische Systematisierung des vorhandenen Wissens.
This article explores the characteristic features of simple hunter-gatherer societies. It is less interested in the empirical diversity of such foraging groups and their respective peculiarities than in their shared structural characteristics. First and foremost, it focuses on how these societies refrained from systematic stockpiling and on the general equality among their members. The contribution starts by discussing the evolution of simple hunter-gatherer societies but concentrates on reconstructing the entanglement and structural integration of their strategies for subsistence, their social structure, and worldview. It does not aim at presenting new empirical findings, but at developing a structural or rather sociologically elementary description of this type of social organization.
Justus Cobet
Der sogenannte Aristeas-Brief. Jüdische Geschichte und Alte Geschichte
Seit den 1980er-Jahren sind die jüdischen Texte in griechischer Sprache aus dem Hellenismus zunehmend in den Blick genommen worden. Der Aristeasbrief, die Legende von der Entstehung der Septuaginta, ist unter ihnen einer der viel beachteten. In Abwägung bisheriger Forschungsvorschläge frage ich danach, (1) wie der Text agiert, um Jüdisches und Griechisches miteinander in Beziehung zu setzen, das notorische Hellenismusproblem, und (2), was wir an Kontexten ausmachen konnen, ohne dass wir Autor und Text einer bestimmten historischen Situation zuordnen konnen. (3) Gleichwohl lassen sich die Beobachtungen zu Schlüssen über den Zeugniswert des Aristeasbriefes zusammenführen. Als Bezugspunkte der Untersuchung werden eingeführt (a) die Spannung zwischen der Befassung mit jüdischer Geschichte und der Althistorie als Teil des traditionellen Narrativs; (b) die Rezeptionsgeschichte der Legende, verwoben mit der Rezeption der jüdischen Bibel in griechischer Sprache; schließlich (c) ein Seitenblick auf „das kulturelle Gedächtnis des Abendlands“ (Jan Assmann).
Since the 1980s, Jewish writings in Greek from the Hellenistic age have been increasingly studied. The Letter of Aristeas, the legend of the Septuagint, is among those attracting particular attention. Weighing different interpretations, I ask (1) how the text operates to bring Jewish and Greek agendas in relation to each other – the notorious issue of ‘Hellenism’; (2) what we can find out about contexts, though there is no particular historical situation to which we can relate the legend. Nevertheless we can (3) bring together the observations made to come to conclusions about what the Letter stands for. As points of reference, I introduce (a) the tension between doing Jewish history and doing Ancient history as part of the traditional narrative; (b) the reception history of the legend, which is interwined with the reception of the Greek Jewish Bibel; and finally (c) a side-glance at “the cultural memory of the Abendland” (Jan Assmann).
Bernadette Descharmes
Die Unaussprechlichkeit der Liebe. Ehe- und Gefühlsideale im klassischen Athen
Autoren wie Aristoteles oder Xenophon betonten stets die funktionalen Aspekte ehelicher Partnerschaft. Dies bewog die Forschung zu der Annahme, dass im klassischen Athen die Ehe eine von emotionaler Zuneigung und sexueller Attraktivitat befreite Nahbeziehung darstellte. Der vorliegende Aufsatz möchte jedoch zeigen, dass das Fehlen von „Liebesgeschichten“ weniger auf eine emotionale Leerstelle als vielmehr auf einen selektiven Umgang mit den Quellen sowie auf ein antikes Ideal emotionaler Zurückhaltung zurückzuführen ist. Dies zeigt sich schlussendlich an den zahlreichen Quellen, die einen alternativen Diskurs aufzeigen und Liebe und Erotik als elementare Bestandteile ehelicher Beziehungen bezeugen.
Authors such as Aristotle or Xenophon always emphasised the functional aspects of marital partnership. This has led researchers to assume that in classical Athens, marriage represented a relationship that was devoid of emotional affection and sexual attraction. This essay, however, aims to show that the lack of “love stories” is not so much due to an emotional vacancy. Rather, it can be traced back to a selective approach to the sources as well as to an ancient ideal of emotional restraint. This is finally demonstrated by the numerous sources that reveal an alternative discourse and affirm that love and eroticism were crucial components of marital relationships.
Frank Weigelt
Textgeschichte des Korans. Vom Propheten zur Kairoer Ausgabe
Den Muslimen gilt der Koran so, wie er überliefert ist, als das unmittelbare Wort Gottes. Es gibt nur eine einzige schriftliche Textform (rasm), die von den modernen Druckausgaben genauso bezeugt wird wie von den ältesten Handschriften. Auch die westliche Koranwissenschaft arbeitet mit diesem traditionellen Text und nicht mit einer kritischen Ausgabe. Der Artikel gibt einen Überblick über die Entwicklung und Überlieferung dieses Textes von seiner Entstehung im 7. Jahrhundert bis zu den modernen Drucken. Dabei werden traditionell-muslimische und historisch-kritische Sichtweise gegenübergestellt und kontroverse Standpunkte der westlichen Forschung diskutiert. Ein Schwerpunkt liegt auf den verschiedenen, von den muslimischen Gelehrten mündlich überlieferten Rezitationsarten (qira?at). Sie weisen zahlreiche Unterschiede im Detail auf, beinhalten aber keinerlei Widersprüche, sondern bezeugen alle dieselbe Botschaft. Hierin sieht die muslimische Tradition einen Beleg für die göttliche Autorität des zugleich mündlich wie schriftlich überlieferten Textes. Am Schluss steht die Frage, inwieweit die heutigen Druckausgaben tatsächlich den Wortlaut dessen wiedergeben, was der Prophet Mohammed seinen Hörern verkündet hat.
Muslims believe that the Qur?an is the immediate word of God as revealed to the Prophet Mu?ammad. Through all times, there has only been one written text form (rasm) with hardly any variants. It is attested in the modern printed editions as well as in the most ancient manuscripts. Not only pious Muslims, but also western scholars use this traditional text rather than a critical edition as the basis of their studies. The article provides an overview of the development and transmission of the Qur?anic text from its origin in the 7th century to modern printings. It contrasts traditional Muslim scholarship with historical-critical views and discusses controversial viewpoints of Western scholarship. A crucial element of the transmission of the text is its recitation by heart. Muslim scholars have authorized several oral versions (qira?at). These exhibit numerous differences in detail but do not contain any contradictions; rather, they all testify to the same message. Muslim tradition sees this as proof of the divine authority of the text. By way of conclusion, the question is addressed to what extent today’s printed editions actually reflect the wording of what the Prophet Muhammad proclaimed to his listeners.