Nachruf von Friedrich Junge


Die Universität beherbergt eine bedeutende Zahl von Fächern, die zwar als klein apostrophiert doch meist riesige Sachgebiete repräsentieren. Unter ihnen sind Ägyptologie und Koptologie, deren Sachgebiet Ägypten in Altertum und Spätantike ist.

Dieses Ägypten, insbesondere das pharaonische Ägypten ist offenbar eine Welt spektakulärer Gebäude, schöner Artefakte, erstaunlicher Gedanken und fiktionalisierter Abenteuer. Dass Ägypten so einer Öffentlichkeit präsentiert werden kann, gründet auf einem Wissen, das, wie in ähnlichen Fächern auch, einige Hundert Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – von dieser Öffentlichkeit kaum bemerkt – über lange Zeit, ja über ein Jahrhundert lang durch ihre mühevolle Forschung angesammelt haben. Einer der Großen dieser Forschenden in unseren Tagen ist Wolfhart Westendorf gewesen.

Er hat einen Weg in der Wissenschaft zurückgelegt, der für die junge Kriegs- und Nachkriegsgeneration in seinen Wendungen exemplarisch gewesen ist, von den Anfängen im geteilten Berlin und einer Promotion an der damaligen Humboldt-Universität, einer schon bedeutsamen Wörterbucharbeit an der Akademie der Wissenschaften der DDR, von dort nach dem Mauerbau – der ihm als Westberliner die Arbeitsstelle genommen hat – als Professor nach München und endlich an die Universität Göttingen, wo er von 1967 bis 1989 Direktor des Seminars für Ägyptologie und Koptologie gewesen ist.

Wolfhart Westendorf hat sich auf diesem Weg zu einem der bedeutendsten und wirkungsmächtigsten Erforscher der ägyptischen Sprache und Hieroglyphenschrift entwickelt, in Deutschland und international. Er repräsentierte bis in unsere Tage hinein die große Tradition philologischer Strenge der „Berliner Schule“, deren letzter Vertreter er war – auch darin, neben den vorchristlichen ägyptischen Sprachstufen ebenso die koptische Sprachstufe der christlichen Epoche Ägyptens zu beherrschen. Der unbestechliche Blick des Philologen prägte seine zahllosen Publikationen, seine Arbeit an Wörterbüchern, Grammatiken und dem großen „Lexikon der Ägyptologie“; zusammen mit Kolleginnen und Kollegen hat er außerdem den riesigen Komplex der ägyptischen Medizin maßstabsetzend erschlossen. Mehr und mehr ist dann auch die ägyptische Religion in sein wissenschaftliches Blickfeld getreten.

Professor Westendorf war aber nicht nur ein großer Gelehrter, sondern auch ein großer Lehrer. Von ihm in die Sprache eingeführt zu werden, war ein Erlebnis, spannend und begeisternd. Die Hieroglyphen waren für ihn und seine Studentinnen und Studenten ein lebendiges Spiel von Fantasie und Rationalität. Fern von jeglicher Haltung als Kathederfürst war er streng und liebenswürdig, fordernd und fördernd und von lebenslanger Loyalität gegenüber seinen Absolventinnen und Absolventen. Als Gelehrter und Lehrer in München und Göttingen ist er der wissenschaftliche Vater eines großen Teils der nachfolgenden Generation von Professorinnen und Professoren des Faches in Deutschland gewesen.

Wolfhart Westendorf, Professor der Ägyptologie, Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen ist nun im Alter von 93 Jahren gestorben.

Friedrich Junge