SAECULUM. Jahrbuch für Universalgeschichte
73. Jahrgang (2023), 2. Halbband
Resümees
Nikolaos Olma
Situating Uranium Industrialism:
Uranium Production and Epistemic Injustice in Soviet-Era Mailuu-Suu
Trotz der kontinuierlich wachsenden Menge an Literatur über die Geschichte des so- wjetischen Atomprogramms sind bottom-up-Erzählungen und Stimmen aus der sow- jetischen Peripherie – ironischerweise – in der Diskussion bislang marginal geblieben. Auf der Grundlage einer Kombination aus Archivmaterial, veröffentlichten Memoiren und Zeitzeugeninterviews untersucht dieser Artikel den Lebenszyklus von Mailuu-Suu, einer sowjetischen Uranbergbaustadt im Ferganatal im Süden der Kirgisischen Sozialistischen Sowjetrepublik, vom GULAG zur sozialistischen Utopie. Zwischen 1945 und 1968 befand sich in Mailuu-Suu ein Uranbergbau- und Hydrometallurgiekombinat, das 10.000 Tonnen Yellowcake produzierte, eine Art Uranerz-Konzentrat, das für die Her- stellung von Brennstoff für Kernreaktoren verwendet wird und einen Zwischenschritt bei der Herstellung von Kernwaffen darstellt. Die Schließung des Kombinats brachte die Umwandlung der Stadt in ein Industriezentrum mit sich, aber wie im Artikel dar- gelegt wird, wurden mit diesem „industriellen Wandel“ das Uranerbe der Stadt gezielt verschwiegen und ihre Geschichte umgeschrieben.
Der Artikel hebt die Rolle hervor, die die Bergwerke von Mailuu-Suu bei der Aufrecht- erhaltung des sowjetischen Atomprogramms spielten, zu einer Zeit, als die bekannten Uranreserven in der Sowjetunion knapp waren und das Land händeringend nach Uran für sein Atombombenprojekt suchte. Indem er darauf hinweist, dass den Bergleuten und anderen Arbeitern das Wissen über die Strahlung vorenthalten wurde, bietet der Artikel einen Einblick in die sozialen, ethnischen, epistemischen und ökologischen Ungerech- tigkeiten, die während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion herrschten. Er legt nahe, dass sich die Behörden der Gefahren bewusst waren, die das Leben in Mailuu-Suu für seine Bewohner darstellte. Unter Berücksichtigung der Tatsa- che, dass der Uranabbau auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs durch ähnliche Prozesse gekennzeichnet war, führt der Artikel den „Uranindustrialismus“ als globale zeit- liche und analytische Kategorie ein. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die einzigartigen Merkmale eines staatlich sanktionierten industriellen Uranabbaus, die ihn von anderen Aspekten der mit Uran betriebenen nuklearen Moderne unterscheiden.
Isaac McKean Scarborough
Chains of White Gold:
Tajikistan’s Cotton Monoculture across the Soviet Divide
1980 erreichte die Baumwollproduktion in Tadschikistan ihren historischen Höhe- punkt, als die lokale Ernte die Marke von 1.000.000 Tonnen überstieg. Der Baumwoll- sektor, der etwa 10 Prozent der gesamten sowjetischen Ernte ausmachte, hatte sich im Laufe des vergangenen Jahrhunderts zu einem dominierenden Wirtschaftszweig Tadschi- kistans entwickelt, der Arbeitsplätze für Landarbeiter bot und dessen Entwicklung zen- tral finanziert wurde. Als Teil der sowjetischen Planwirtschaft wurden die tadschikische Baumwollernte und deren Tonnen von „Weißem Gold“ jedoch für zentralisierte Zwecke verwendet: die Verarbeitung von Baumwolle und das Nähen von billigeren Baumwoll- stoffen in anderen Teilen der UdSSR sowie die Bereitstellung hochwertiger Exportbaum- wolle für das Ausland. Die Rolle Tadschikistans in dieser Hierarchie war klar und eine Verlagerung auf lokale industrielle Verarbeitung oder eine Diversifizierung der Landwirt- schaft waren ausgeschlossen, auch da sie der Republik einen stetigen Zufluss von Rubeln einbrachte. Als die sowjetische Wirtschaft in den späten 1980er-Jahren schrumpfte, blieb die Baumwollproduktion zwar konstant, aber die Unterstützung durch das Zentrum in Moskau begann zu schwinden. Seit den 1990er Jahren haben sich die Ernten zwar teil- weise erholt, liegen aber immer noch weit unter dem sowjetischen Höchststand, während die Bemühungen um eine Diversifizierung der Landwirtschaft in den letzten Jahren zu einem erheblichen Rückgang der Baumwollanbaufläche und der Gesamterntemengen ge- führt haben. Dennoch hat das „Weiße Gold“ in Tadschikistan nach wie vor einen starken Einfluss auf die Wirtschaft des Landes. Dies führt die Kosten der einstigen sowjetischen Baumwollmonokultur in Tadschikistan deutlich vor Augen: einerseits die ökologischen und medizinischen Folgen und andererseits die wirtschaftliche Unterentwicklung – die lange Zeit mit den stabilisierenden Finanzströmen aus Moskau einhergingen.
Mikhail Akulov/Arslan Akanov
Kolonizatsiia or Korenizatsiia?
The Many Faces of Soviet Modernization in Post-Sta- linist Kazakhstan
Die Zeit zwischen Stalins Tod und dem Zusammenbruch der UdSSR ist für unser Ver- ständnis des heutigen Kasachstan von entscheidender Bedeutung. Als Ära, die der Grün- dung des unabhängigen Kasachstan vorausging, enthält sie viele Schlüssel zur heutigen wirtschaftlichen, politischen und demografischen Entwicklung des Landes sowie zum Selbstverständnis der Kasachstaner und insbesondere der ethnischen Kasachen. Der Ar- tikel vermeidet die gängigen binären Unterscheidungen wie „sowjetisch“ und „antisowje- tisch“, „authentisch“ und „fremd“, „national“ und „imperial“ und geht davon aus, dass die Ambiguitäten dieser Zeit eine ganzheitliche, wenn auch widersprüchliche Erfahrung Ka- sachstans als Teil der Sowjetunion widerspiegeln. Der Artikel argumentiert, dass koloniale Tendenzen zwar offensichtlich waren, aber gleichzeitig mit einem Anstieg der industriellen Investitionen und der fortschreitenden Kasachifizierung der Eliten und der öffentlichen Vorstellungswelt einhergingen. Diese Tendenzen ließen umfassendere demografische und politische Veränderungen erkennen: hohe Geburtenraten unter ethnischen Kasachen und eine komplexe Zentrum-Peripherie-Dynamik zwischen Moskau und Alma Ata.
Der Artikel gliedert sich in vier Teile. Zunächst werden die wirtschaftlichen Entwick- lungen untersucht, die zu einer tiefgreifenden Veränderung des wirtschaftlichen Profils der Republik führten. Zweitens werden die demografischen Veränderungen analysiert, die von einer allmählichen Erholung der Kasachen nach den Verwüstungen durch Hun- gersnot und Krieg zeugen. Der Prozess der kulturellen Kasachifizierung, der von re- publikanischen Bürokraten und der Intelligenzija vorangetrieben wurde, wird in Teil 3 untersucht. Schließlich diskutiert der Artikel drei Episoden offenen politischen Wider- stands, die zwar von einem wachsenden nationalen Selbstbewusstsein der Kasachen zeu- gen, aber auch das Fortbestehen ihrer sowjetischen Loyalität sowie die Spannungen zwi- schen Moskau und der lokalen Führung offenbaren. Durch die Gegenüberstellung dieser Episoden wird der sich entwickelnde Charakter des sowjetischen Projekts in Kasachstan mit all seinen Widersprüchen und Verschiebungen, die den Hintergrund für die Unab- hängigkeit bildeten, deutlich.
Masha Salazkina
Al-Biruni in Tashkent:
On Cultural Heritage and Revolutionary Patience in the 1970s Cinema of Soviet Uzbekistan
Dieser Artikel befasst sich mit der Geschichte des Taschkenter Festivals des asiati- schen, afrikanischen und lateinamerikanischen Kinos, welches zwischen 1968 und 1988 in der Sowjetunion abgehalten wurde. Das damals einzigartige Festival bot eine Bühne für die größte Zahl und Vielfalt von Filmen, welche die Welt außerhalb von Europa und Nordamerika repräsentierten.
Aus diesem umfangreichen Korpus an Werken greift dieser Beitrag einen auf dem Taschkenter Filmfestival stark vertretenen Filmtypus heraus: Filme, die eine (Re-)Kon- struktion von kulturellem Erbe durch die Genres des ethnografischen Films, der Li- teraturverfilmung und des historischen Epos bieten. Der Beitrag gibt einen Überblick über Filme jenes Typus, die in Taschkent gezeigt wurden und konzentriert sich ferner auf eine spezifische Iteration, die beispielhaft für die kulturelle und politische Dynamik dieses transkulturellen Raumes steht: ein sowjetisch-usbekisches Biopic über Al-Biruni, einen islamischen Universalgelehrten der frühen Neuzeit (Filmtitel: Abu Reyhan Biruni, Regie: Shukhrat Abbasov, 1973). Es wurde auf dem Taschkenter Festival 1974 mit gro- ßem Erfolg gezeigt.
Der Artikel stellt dieses Filmprojekt zugleich in seinen sowjetischen und internatio- nalen Kontext, als Teil des zu dieser Zeit federführend von der UNESCO begangenen tausendjährigen Jubiläums, das an Al Birunis Leben und Werk erinnerte. Er vergleicht die sich überschneidenden sowjetischen und von der UNESCO vertretenen Modelle des filmischen Engagements und plädiert dafür, den Film als Konstruktion komplexer Vor- stellungen vergangener Gemeinschaften zu lesen, die zusätzlich zu den unterschiedlichen Vorstellungen von „Weltkulturerbe“ in diversen lokalen, nationalen, liberalen, postkolo- nialen und sozialistisch-internationalistischen Rahmen verhandelt werden.
David Leupold
Back to the Cosmic Future?
The Bishkek Planetarium and the (Un-)Claimability of the Socialist Past
Es wird weithin angenommen, dass der Wunsch, Wahrzeichen der Sowjetzeit zu schüt- zen, einem tief verwurzelten Gefühl postsowjetischer Nostalgie entspringt, das eher von denjenigen geteilt wird, die im realen Sozialismus lebten. Dieses Erklärungsmodell kann jedoch kaum die Motivation begreiflich machen, die eine junge und amorphe Aktivis- tengruppe antrieb, die sich aus einem Juristen, einem Architekten, einem Wirtschafts- wissenschaftler, einem Philologen und einem Softwareentwickler zusammensetzte, die alle fast ein Jahrzehnt nach dem Ende der Sowjetunion geboren wurden. Dieser Artikel sucht den Kampf der Aktivistengruppe und ihr Bestreben zu rekonstruieren, das verlas- sene Planetarium aus der Sowjetzeit als öffentliches Objekt zurückzuerobern.
Zu diesem Zweck führte der Autor nicht nur eine Reihe von Interviews mit der Akti- vistengruppe, sondern nahm 2021 auch an verschiedenen Verhandlungen vor dem Obers- ten Gericht (verkhovniy sud) teil. Ergänzt werden die empirischen Belege durch eine Analyse lokaler Medienressourcen und Sekundärliteratur zu Fragen der Stadtpolitik und des Rechts auf städtischen Raum sowie zur Kulturgeschichte der sowjetischen Weltraum- forschung und ihrer Bedeutung im kirgisischen Kontext. Der Beitrag untersucht einer- seits die unterschiedlichen Motive und Weltanschauungen der Aktivisten und die Art und Weise, wie diese ihre Visionen zur Aneignung und Neubewertung des materiellen Erbes eines ikonischen Ortes, der für die Astronomie und Raumfahrt der sozialistischen Ära steht, beeinflussten. Andererseits rekonstruiert er minutiös den Rechtsstreit um die Privatisierung, der schließlich damit endete, dass die unwiderrufliche Zerstörung des Planetariums nicht verhindert werden konnte. Dabei wird argumentiert, dass die wider- sprüchliche Haltung der kirgisischen Gerichte – die zunächst die Ansprüche anerkannte und dann das Planetarium für „nicht beanspruchbar“ erklärten – das grundlegende Para- doxon offenbart, das die Beziehung zwischen der heutigen „postsozialistischen“ Staats- macht und dem materiellen Erbe des Ancien Régime kennzeichnet.