SAECULUM. Jahrbuch für Universalgeschichte
73. Jahrgang (2023), 1. Halbband / Villains! Constructing Narratives of Evil
Villains! Constructing Narratives of Evil
Isadora Campregher PaivaMale and Female Villains in Weimar Cinema: Variations on Male Anxieties about Loss of Power
Das Weimarer Kino ist besonders bekannt für seine Bösewichte mit Kultcharakter: Während die böse Roboterin in Metropolis oder die Hauptfigur in Nosferatu von vielen sofort erkannt werden, obwohl sie die Filme niemals gesehen haben, sind die dazugehörigen Held*innen nahezu vergessen. Mittels einer Kombination aus formaler Betrachtungsweise der Filme und Rekonstruktionen des politischen, sozialen und kulturellen Universums, in dem diese Werke produziert und konsumiert wurden, werde ich die Muster analysieren, die hervortreten, wenn wir einige der ikonischsten Schurk*innen im Kino der Weimarer Zeit betrachten. Was sagen sie uns über Ängste und Sorgen, die sich durch die Gesellschaft der Weimarer Republik zogen? Welche Rolle spielte das Geschlecht in diesen Figurationen? Die Resultate weisen darauf hin, dass sowohl männliche als auch weibliche Schurk*innen Ängste reproduzierten, gleichzeitig aber auch eine Anziehungskraft ausüben, die insbesondere auf der Seite der männlichen Subjekte/Opfer bis zum Verlust von Macht und Kontrolle führte. Dies tritt in fantastischen wie auch realistischeren Formen auf, von Bewusstseinskontrolle (Dr. Caligari, Dr. Mabuse), Körperteilen mit einem eigenen Willen (Orlacs Hände) und Programmierung durch einen verrückten Wissenschaftler (Metropolis, Alraune) bis hin zu Verführung (Alraune, Büchse der Pandora, Der Blaue Engel). Mit ihrer besonderen Mischung aus Kriegstrauma und Furcht vor der Moderne, Technologie, Geschlechterverhältnissen und ökonomischer und politischer Instabilität sind diese Filme unzweifelhaft ein Produkt ihrer Zeit sind. Dennoch deutet die bleibende internationale Resonanz der Bösewichte darauf hin, dass die speziellen Ängste und Sehnsüchte, die sie repräsentieren, um einiges grenzübergreifender und andauernder sind, als der Fokus auf eine vermeintlich einzigartige Wesensart des deutschen Publikums uns glauben macht.
Stefan Schubert
The Downfall of a Hero: The Vilification of Philippe Pétain
Der Beitrag folgt dem Staatschef Philippe Pétain auf seinem Weg vom Helden zum Schurken im französischen Vichy-Regime (1940–1944). Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs schwankte das Bild Pétains zwischen Held und Verräter. Für das Vichy-Regime musste die heldenhafte Version des Staatsoberhaupts die Oberhand behalten, da er die ideologische Stütze des neuen politischen Systems war. Dies war für die Feinde des Vichy-Regimes nur allzu offensichtlich, so dass die Herabwürdigung des Kriegshelden Pétain ein wichtiger Bestandteil der Propaganda-Kampagne war, die den neuen Staat zu delegitimieren suchte. Der Beitrag zielt darauf, erstens, Prozesse der Heroisierung und der Denunziation zu illustrieren und, zweitens, die Korrelation zwischen militärischem Heldentum und politischer Herrschaft im Zeitalter ideologischer Extreme zu analysieren. Der Status als Kriegsheld war ein machtvolles Instrument, um politische Herrschaft zu legitimieren. Im Gegenzug dekonstruierten Narrative des Bösen diesen Status und delegitimierten somit Pétains politische Figur und das ganze politische System, das er verkörperte. Um diese Prozesse zu analysieren, entwirft der Autor eine Heuristik des Verrats, der als invektiver Mechanismus ein entscheidendes Argument darstellte, um Pétain und seinem autoritären Regime die Legitimation zu verwehren.
Kristine Andra Avram
Of Evil Men and Zealous State Agents:
The Villain in Criminal Trials for Past Human Rights Violations in Post-Communist Romania
Strafprozesse wegen vergangener Menschenrechtsverletzungen können als Theaterstücke betrachtet werden, in denen der Angeklagte in der Rolle des Bösewichts im Mittelpunkt steht. Die Zuschreibung der Rolle des Bösewichts an den/die Angeklagte(n), mit ihren narrativen Effekten und gesellschaftlichen Funktionen, ist bislang jedoch ein übersehenes Thema im Feld von Law and Literature oder der Erinnerungsforschung. Daher analysiert dieser Artikel die Figur des Bösewichts in Strafprozessen wegen vergangener Menschenrechtsverletzungen im postkommunistischen Rumänien. In der Analyse der drei Urteile, die sich auf Verbrechen während des kommunistischen Regimes beziehen, untersuche ich, wie sich der Grad und die Art und Weise der Bösartigkeit in den einzelnen Fällen unterscheidet. Die Darstellung der Angeklagten als Bösewichte hat insgesamt ähnliche narrative Effekte, aber unterschiedliche Funktionen. Mein Hauptargument ist, dass die Zuschreibung von Verantwortung an Bösewichte eine entpolitisierende Wirkung hat und dadurch das epistemische Potenzial von Prozessen beeinträchtigt. Insofern die Angeklagten – in der Rolle der Bösewichte – am Ende bestraft oder sogar hingerichtet werden, bieten diese Geschichten dem Publikum ein moralisches Beruhigungsmittel, reinigen das kollektive Bewusstsein und fördern die Passivität. Mit anderen Worten: Wenn wir den Bösewicht gefunden haben, müssen wir nicht weiter suchen – Ende gut, alles gut.
Zoran Vuckovac
Heroes or Villains?
The Hague Convicts and Their Heroic Afterlife in Ex-Yugoslav National Contexts
Dieser Aufsatz analysiert, wie frühere Herrschende sich entwickelnder Nationalstaaten nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens Herabwürdigungen in ihren jeweiligen nationalen Kontexten vermeiden konnten, obwohl sie für einige der schlimmsten Verbrechen seit dem zweiten Weltkrieg verurteilt wurden. Diese realen Bösewichte werden mit einer anhaltenden „mythical perception of time“ gefeiert, die in einem nationalen institutionellen Rahmen reproduziert wird, in dem die Schwere der Anklagen weniger wichtig ist, als ihre Einschreibung in die Geschichte. Der erste Teil des Textes basiert auf der Kritik des legalen Erbes des internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und der Art und Weise, in der politische und militärische Anführer durch ihre Diskurse und Praktiken in Prozessen Schlupflöcher dieses ad hoc eingesetzten internationalen Tribunals durch ihre Diskurse und Praktiken ausnutzten. Im zweiten Teil des Textes werde ich zeigen, wie mittels beträchtlichen Drucks ex-jugoslawischer Staaten auf internationaler Ebene Anstrengungen unternommen wurden, Einzelpersonen zu kriminalisieren. Dies ließ dennoch viel Freiraum, auf der mittleren Ebene des Staates zu entscheiden, wieviel Unterstützung den vor Gericht stehenden Personen Unterstützung zukommen sollte, sowohl in finanzieller als auch in symbolischer Hinsicht. Daher wurde die versuchte Herabwürdigung in nationalen Kontexten immer verhindert, da diese Bösewichte und ihre Projekte bejubelt wurden und die Leugnung von ICTY-Urteilen in staatlich gelenkten Erinnerungspraktiken normalisiert wurde. Schließlich werde ich einige Aspekte einer Randkultur ansprechen, die etwas außerhalb staatlicher Kontrolle agiert und aktiv eine Überlieferung fördert, in der die Angeklagten weiterhin als Helden erscheinen – und nie als Bösewichte.
Thomas Bragdon
On the Vilification of Asylum Seekers in Struggles for Legal Residence in EU Countries
Dieser Aufsatz untersucht den problematischen Gebrauch des Begriffs „radikal“ im Kontext selbst organisierter Protestgruppen (abgelehnter) Asylsuchender, wie den „Oranienplatz-Flüchtlingen“ in Berlin. Mit dem Fokus auf den „GUstreik“, einer Serie von Protesten, die von Asylsuchenden in Würzburg (Bayern, Deutschland) 2012 organisiert wurden, stellt der Aufsatz die Frage warum - und wie - Herabwürdigung damit beginnt, dass Personen als „radikal“ bezeichnet werden, bevor dieser Begriff mit Blick auf seine uneindeutigen Konnotationen definiert wird. Wenn nun abgrenzende Kriterien gegeben werden, um den Begriff „radikal“ zu definieren, wobei er von „moderaten“ Formen von Politik abgegrenzt wird, führt dies zu der weiteren Frage, inwiefern derartige Kriterien ein neutrales Werkzeug für die unvoreingenommene Bewertung von Überzeugungen und Verhaltensweisen sind, oder eher ein rhetorisches Mittel im politischen Ringen. Indem dieser Aufsatz zwei abgrenzende Kriterien für den Begriff „radikal“ in Betracht zieht – den „demokratischen Dialog“ versus die „Wahl des Lebens gegenüber dem Tod“ – zielt er darauf ab, Probleme von Sicherheit und Demokratie zu artikulieren, mit denen der problematische Gebrauch des Begriffs „radikal“ intrinsisch verflochten ist.
Maarten Gooskens
A Villain in the Family: Representations of Perpetrator-Parents
In jüngster Zeit ist die Figur des Täters zu einem zunehmend zentralen Subjekt interdisziplinärer Forschung geworden. Mit dem Wachsen der Täter-Forschung wird eine wachsende akademische Bühne für die Analyse Stimmen und Erinnerungen von Tätern geboten. Viele davon liegen uns in Form von Interviews, Fotografien, Memoiren oder zahlreichen anderen Selbstzeugnissen vor und erlauben daher einen gewissen Grad an Selbstdarstellung. Allerdings sieht sich, je weiter wir uns von den gewalttätigen Konflikten der Vergangenheit entfernen, eine neue Generation belastet mit der Verantwortung, Täterschaft zu repräsentieren. Das Ziel dieser Studie ist es, transgenerationale Darstellungen von Täterschaft zu betrachten, die in Erinnerungen aus dem intimen Bereich der Familie auftreten – The last Typhoon (1992) von Graa Boomsma und The Translator from Java (2016) von Alfred Birney. Die Texte haben ein gemeinsames Thema: Ein Sohn untersucht die Rolle seines Vaters im niederländischen Militär während des Indonesischen Unabhängigkeitskriegs (August 1945 bis Dezember 1949) und die Verknüpfung dieser Erfahrungen mit den vielen verschiedenen Formen, mit denen dieser Konflikt sich im niederländischen kulturellen Gedächtnis niederschlägt. Die Niederlande werden geplagt von dem alten Mythos, dass ihre Kolonialgeschichte, insbesondere ihre exzessive Gewalt, in Vergessenheit geraten sei. Die Männer, die diesen Konflikt selbst erlebten, blieben jahrzehntelang stumm, um sich dann als Opfer eines fehlerhaften kolonialen und militärischen Systems darzustellen. Allerdings fühlten die jüngeren Generationen – die unter einem sich wandelnden Paradigma des öffentlichen Diskurses aufwuchsen, das mehr und mehr nahelegte, dass ihre (Groß-)Eltern sich auf der falschen Seite der Geschichte befunden hatten – eine Verantwortung, sich mit dem zu beschäftigen, was Gabriele Schwab als „haunting legacies“ („quälende Vermächtnisse“) bezeichnet. Diese Studie transgenerationaler Täter-Narrative erläutert das Verhältnis zwischen (nachträglicher) Erinnerung und Täter-Repräsentation. Letztlich wird analysiert, wie Narrative von Täterschaft, die ein Subjekt betreffen, dass sich seiner Position als Täter-Subjekt unbewusst ist, durch eine spätere Generation konstruiert werden.
Timothy D. Peters
“You are bad guy, but this does not mean you’re bad guy”:
The Office of the Villain in Despicable Me, Megamind and Wreck-It Ralph
Unter Bezugnahme auf Giorgio Agambens Arbeiten beleuchtet dieser Aufsatz die „Funktion“ des fiktionalen Bösewichts kritisch. Er argumentiert, dass ein Fokus auf Bild und Funktion des fiktionalen Bösewichts wichtig ist, nicht nur wegen der Rolle, die unsere Phantasien dabei spielen, bestimmte Ideologien zu reflektieren und zu verstärken – was dem Superhelden-Genre ja vorgeworfen wird –, sondern weil alle Held*innen und Bösewichte nur durch ihre Repräsentationen funktionieren. Den harten Realismus herausfordernd, der das Superhelden-Genre auf der Leinwand dominiert, werden drei satirische, animierte Darstellungen des Superschurken betrachtet: Ich, einfach unverbesserlich (Depicable Me), Megamind und Ralph reicht’s (Wreck-it Ralph). Diese Filmkomödien bieten - bei all ihrer Albernheit und überzogener Performance – nicht nur eine notwendige kritische Antwort auf die Dominanz des Superhelden-Genres, sondern auch eine stärker nuancierte und anspruchsvollere Präsentation des Bösen, der Rolle fiktionaler Schurk*innen und ihrer Reflektion auf die Gesellschaft. Dies liegt darin begründet, dass sie die Art und Weise darstellen, in der die strukturelle Rolle des fiktionalen Superschurken als die Erfüllung eines bestimmten „Auftrags“ oder einer „Funktion“ verstanden werden kann. Indem sie dies tun, liefern sie eine Kritik der Ethik des Auftrags und dessen eigenen Potentials zur Schurkerei. Abschließend wendet sich der Aufsatz der Banalität der Schurkerei zu und betont die Bedeutung des Zusammenseins in Gemeinschaft.