Aktuelles
- Projekt-Monographie „Praktiken des Plausibilisierens“
- Call for Papers: „Was geht“ – und warum? Normative Perspektiven auf literaturwissenschaftliche Praktiken (Tagung Göttingen, 16.–18.07.2026)
Unsere Projekt-Monographie ist erschienen:
Simone Winko / Stefan Descher / Urania Milevski / Merten Kröncke / Fabian Finkendey / Loreen Dalski / Julia Wagner: Praktiken des Plausibilisierens. Untersuchungen zum Argumentieren in literaturwissenschaftlichen Interpretationstexten. Göttingen: Universitätsverlag 2024.
Call for Papers : „Was geht“ – und warum? Normative Perspektiven auf literaturwissenschaftliche Praktiken (Abstract bis zum 14.11.2025)
Tagung in Göttingen, 16.–18.07.2026
Organisation: Jana Eckardt und Simone Winko
Vor zehn Jahren erschien das Sonderheft der Zeitschrift Germanisch-Romanische Monatsschrift, in dem nach „Kriterien und Standards der Literaturwissenschaft“ gefragt wurde, nach Maßstäben für Ziele und nach Qualitätskriterien im Fach. Diese Frage wollen wir wieder aufnehmen und aus der Sicht einer veränderten Forschungslage neu stellen. Bezugspunkt ist die in den letzten Jahren verstärkte Erforschung der literaturwissenschaftlichen Praxis: Es wird zunehmend reflektiert und mitunter auch materialbasiert untersucht, wie Literaturwissenschaftler:innen vorgehen, wenn sie sich etwa interpretierend mit literarischen Texten auseinandersetzen (vgl. Krämer 2015), wie sie sich als Vertreter:innen neuer Forschungsrichtungen zur Tradition verhalten und umgekehrt (vgl. Trilcke/Fischer 2018; Schruhl 2020), wie sie Begriffe verwenden (vgl. Willand 2011; Kater 2020), Fußnoten gestalten (Martus et al. 2015), argumentierend Plausibilität herstellen (vgl. Winko et al. 2024) und vieles mehr. In ihrem Band Geistesarbeit (2022) haben Steffen Martus und Carlos Spoerhase die Fülle fachlicher Praktiken entfaltet und Einsichten in ihre vielfältigen Mechanismen vermittelt.
In diesem stärker auf die Fachpraxis und ihre durchaus kleinteiligen Praktiken ausgerichteten Interesse liegt der eine besondere Fokus der Tagung, der andere liegt im Ausloten einer normativen Perspektive.
Normativität ist nichts, was der Praxis bloß nachgelagert oder äußerlich wäre; normative Aspekte durchziehen vielmehr Praktiken des Interpretierens, Theoretisierens usw. in zweifacher Weise: Zum einen bestimmen sie als implizite Normen bzw. zu befolgende Spielregeln die Auffassung von gelungenen und nicht gelungenen Praktiken und legen den Rahmen dessen fest, „was geht“ (Klausnitzer 2015). Zum anderen schlagen sie sich in eigenen Beurteilungspraktiken nieder (vgl. etwa den Themenschwerpunkt „Evaluation in den Geisteswissenschaften“ der Zeitschrift für Germanistik). Praxeologische Studien beschreiben und rekonstruieren in der Regel ihre Gegenstände, erklären sie teilweise auch, enthalten sich aber weitgehend der – zumindest expliziten – Beurteilung. Wenn normative Aspekte einbezogen werden, dann betreffen sie in aller Regel die Rekonstruktion der genannten (normativen) Handlungen und ihrer Voraussetzungen. Dennoch scheinen gerade rekonstruierte und damit explizit gemachte Praktiken in besonderem Maße Wertungen herauszufordern; die Reaktionen auf Rekonstruktionen etwa des argumentativen Verhaltens im weiten Sinne sind selten neutral, sondern beziehen Position – sei es als Verteidigung, sei es als Kritik der Praktiken. Eine solche wertende Perspektive soll auf der Tagung neben der rekonstruierenden Sicht eingenommen werden, allerdings nicht im Sinne einer pauschalen Praxisschelte oder -verteidigung, sondern im Sinne der Reflexion, Diskussion und Anwendung angemessener Beurteilungsmaßstäbe, basierend auf einer fundierten Kenntnis der literaturwissenschaftlichen Praxis.
Das Themenfeld soll auf der Tagung unter vier Perspektiven bearbeitet werden: (1) Normative Praktiken sollen rekonstruiert und beschrieben, (2) diverse literaturwissenschaftliche Praktiken sollen beurteilt, und (3) die Kriterien dieser Beurteilung sollen reflektiert werden. (4) Schließlich sollen Praxis-Beschreibungen in Hinsicht auf ihre impliziten normativen Voraussetzungen untersucht werden.
(1) Materialgestützte Analysen normativer Praktiken. Über die impliziten Regeln und damit auch über die Normativität, die verschiedenen literaturwissenschaftlichen Praktiken inhärent ist, wissen wir noch viel zu wenig, ebenso wenig über das Spektrum wertender Handlungen im Fach. Mehr oder weniger ausgeprägte normative Aspekte sind in allen literaturwissenschaftlichen Praktiken anzunehmen (zur „Multinormativität literaturwissenschaftlichen Arbeitens“ vgl. Martus 2016). Sie lassen sich – wenn auch nicht ohne methodische Probleme – aus den faktisch befolgten Regeln innerhalb einer Praktik rekonstruieren. Darüber hinaus sind hier aber ebenfalls Praktiken von Interesse, die selbst dominant wertend vorgehen, in denen wertende Handlungen gewissermaßen institutionalisiert sind, etwa das literaturwissenschaftliche Rezensionswesen oder die fachinterne Evaluation durch Gutachten. Schließlich sollen auch explizite und implizite Wertungsstrategien im Umgang mit Forschung, mit literarischen Texten, mit Themen und Genres untersucht werden – also Wertungen, die neben dem eigentlichen Ziel des Beitrags bzw. der Textsorte, gegebenenfalls en passant, mit vollzogen werden und mit Praktiken verbunden sein können, die nicht in erster Linie auf Wertungen zielen.
(2) Beurteilung von Praktiken. Neben dem Rekonstruieren literaturwissenschaftlicher Praktiken soll auch die Frage nach deren Beurteilung gestellt werden. Ein des Öfteren beschrittener Weg führt über die unter Punkt (1) angesprochene Rekonstruktion faktisch befolgter Regeln, die dann die Maßstäbe bilden, an denen Praktiken beurteilt werden können. Hier wären Beiträge wünschenswert, die konkrete Praktiken verschiedener Reichweite – z.B. Theoretisieren, Interpretieren, Argumentieren, Kontextualisieren, Beispiele bilden, Bezugnehmen auf den literarischen Text, Zitieren u.v.m. – begründet bewerten. Welche Kriterien werden für eine solche Beurteilung in Anschlag gebracht und/oder sollten sinnvollerweise in Anschlag gebracht werden? Diese Fragen hängen eng mit der dritten Perspektive zusammen.
(3) Kriterienreflexion und -begründung. Aus praxeologischer Sicht ist es naheliegend, dass explizite Regeln und implizite, befolgte Regeln nicht übereinstimmen müssen (vgl. z.B. Reckwitz 2003, 292). Wäre eine solche Diskrepanz für die Literaturwissenschaft als Wissenschaft akzeptabel? Wenn ja, unter welchen Bedingungen? Hat die Praxis immer recht, d.h. lässt sie sich nur innerhalb ihrer eigenen Regeln, ihres eigenen, impliziten Standards beurteilen (vgl. Jaeggi 2014)? Wer diese Frage verneint, steht vor der normativen Frage, welche Standards es geben sollte und wie sich die entsprechenden Geltungsansprüche begründen lassen. Zum einen ließe sich damit an die Frage nach dem „Ethos“ der Literaturwissenschaft anschließen (vgl. Klausnitzer/Spoerhase/Werle 2015). Zum anderen könnte auch der differenzielle Ansatz, den Werner Strube (1992) für die Handlungstypen, die in Interpretationen vorkommen, vorgeschlagen hat, für unser Thema fruchtbar sein: Zur Beurteilung der verschiedenen Praktiken scheinen unterschiedliche Kriterien angemessen zu sein. Wenn es auch nicht sinnvoll scheint, für alle literaturwissenschaftlichen Praktiken einen und denselben Maßstab anzusetzen, ließe sich dennoch fragen, ob das ‚Fachprofil‘ dazu führt, dass die Kriterien ähnlich sind (oder zumindest das eine oder andere Merkmal teilen). Zudem stellt sich die Frage, ob Kriterien und Standards nicht nur in Abhängigkeit von den Praktiken divergieren können bzw. dürfen, sondern auch im Hinblick auf kontextabhängige oder gruppenbezogene Faktoren wie Erfahrung, theoretische ‚Schulen‘ oder Veröffentlichungskontexte.
(4) Unter einer weiteren reflexiven Perspektive sollen die normativen Voraussetzungen der praxeologischen Analyse selbst untersucht werden. Selbst wenn die Praxis nur beschrieben werden soll, gehen dann nicht doch auch normative Aspekte in die Beschreibung und Interpretation ein? Diese könnten sich etwa in der Auswahl der Gegenstände, dem gewählten Fokus der Analyse, den gewählten Beispielen u.a. manifestieren.
Die vier Perspektiven haben wir aus analytischen Gründen auseinandergehalten. Auf der Tagung sind integrative Beiträge besonders willkommen, d.h. Beiträge, die sich der Reflexion und Begründung von Kriterien widmen, sollten materialgestützt vorgehen und Beiträge, die sich vornehmlich der Rekonstruktion von Praktiken widmen, könnten von einer normativen Perspektive profitieren. Von Interesse sind sowohl historische Studien als auch Beiträge zur aktuellen Fachpraxis. Eine systematische Auswertungsperspektive ist besonders erwünscht. Neben praxeologischen sind auch wissenschaftstheoretische Beiträge und normative Grundlagenreflexionen gefragt.
Sind wissenschaftliche Standards fachspezifisch geprägt, stellt sich die Frage, wie die Diskussion und Reflexion fachlicher Praxis in anderen Disziplinen verläuft und welche disziplinären Gemeinsamkeiten oder Unterschiede dabei sichtbar werden. In diesem Zusammenhang schließen wir uns der Einschätzung von Steffen Martus und Carlos Spoerhase (2024) an: „Wenig hilfreich ist der pauschalisierende Hinweis auf bestehende disziplinäre Unterschiede, als sei schon klar, was damit gemeint ist.“ Besonders interessiert sind wir daher an Beiträgen aus den verschiedenen Literaturwissenschaften (etwa der Germanistik, Anglistik, Slavistik, Romanistik usw.) sowie aus angrenzenden Disziplinen wie Linguistik, Soziologie oder Philosophie.
Die Tagung findet vom 16. bis 18. Juli 2026 in der Göttinger Alten Mensa, Hannah-Vogt-Saal, Wilhelmsplatz 1, statt. Sie wird auf der Grundlage von vorab verschickten ersten Versionen der Beiträge (ca. 15–20 Seiten) durchgeführt, die auf der Tagung in einem Respondenzverfahren kurz vorgestellt und im Anschluss diskutiert werden. Eine anschließende Publikation der Beiträge ist vorgesehen.
Vorschläge für Beiträge können bis zum 14.11.2025 in Form eines Abstracts (ca. 300 Wörter) sowie einer Kurzbiografie an Simone Winko und Jana Eckardt gesendet werden.
Literatur
Axtner-Borsutzky, Anna (Hg.): Evaluation in den Geisteswissenschaften. Themenschwerpunkt der Zeitschrift für Germanistik 80/1 (2023).
Jaeggi, Rahel: Kritik von Lebensformen. Berlin 2014.
Kater, Thomas: Werke der Wissenschaft. Praxeologische Perspektiven auf die Kategorie des Werks. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 65/1 (2020), 123–145.
Klausnitzer, Ralf: Wie lernt man, was geht? Konstitutive und regulative Regeln in Interpretationsgemeinschaften. In: Marie Lessing-Sattari / Maike Löhden / Almuth Meissner / Dorothee Wieser (Hg.): Interpretationskulturen. Literaturdidaktik und Literaturwissenschaft im Dialog über Theorie und Praxis des Interpretierens. Frankfurt a.M. 2015, 151–181.
Klausnitzer, Ralf / Carlos Spoerhase / Dirk Werle (Hg.): Ethos und Pathos der Geisteswissenschaften. Konfigurationen der wissenschaftlichen Persona seit 1750. Berlin / Boston 2015.
Krämer, Olav: Goethes Wahlverwandtschaften in Interpretationen von der Geistesgeschichte bis zum Poststrukturalismus. Zu einigen Kontinuitäten in der Argumentationspraxis. In: Andrea Albrecht / Lutz Danneberg / O.K. / Carlos Spoerhase (Hg.): Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens. Berlin / Boston 2015, 159–203.
Martus, Steffen: Zur normativen Modellierung und Moderation von epistemischen Situationen in der Literaturwissenschaft aus praxeologischer Perspektive. In: Scientia Poetica 20 (2016), 220–233.
Martus, Steffen / Carlos Spoerhase: Praxeologie der Geisteswissenschaften – revisited. In: IASL 49/2 (2024), 323–340. (DOI: https://doi.org/10.1515/iasl-2024-0016)
Martus, Steffen / Carlos Spoerhase: Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften. Berlin 2022.
Martus, Steffen / Erika Thomalla / Daniel Zimmer: Die Normalität der Krise. Beobachtungen zur Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft aus Fußnotenperspektive. In: DVjs 4 (2015), 510–520.
Nünning, Ansgar / Renate Stauf / Peter Strohschneider (Hg.): Kriterien und Standards der Literaturwissenschaft. Sonderheft der Germanisch-Romanischen Monatsschrift 65/1 (2015).
Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie 32/4 (2003), 282–301.
Schruhl, Friederike: Formationen der Praxis. Studien zu Darstellungsformen von Digital Humanities und Literaturwissenschaft. Göttingen 2020.
Strube, Werner: Über Kriterien der Beurteilung von Textinterpretationen. In: Lutz Danneberg / Friedrich Vollhardt (Hg.): Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Stuttgart 1992, 185–209.
Trilcke, Peer / Frank Fischer: Literaturwissenschaft als Hackathon. Zur Praxeologie der Digital Literary Studies und ihren epistemischen Dingen. In: Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, Sonderheft „Wie Digitalität die Geisteswissenschaften verändert.“ Hg. v. Martin Huber und Sibylle Krämer. Wolfenbüttel 2018. (DOI: http://dx.doi.org/10.17175/sb003)
Willand, Marcus: Autorfunktionen in literaturwissenschaftlicher Theorie und interpretativer Praxis. Eine Gegenüberstellung. In: Journal of Literary Theory 5/2 (2011), 279–301.
Winko, Simone / Stefan Descher / Urania Milevski / Merten Kröncke / Fabian Finkendey / Loreen Dalski / Julia Wagner: Praktiken des Plausibilisierens. Untersuchungen zum Argumentieren in literaturwissenschaftlichen Interpretationstexten. Göttingen 2024. (DOI: 10.17875/gup2024-2639)