Kunstwerk des Monats im November 2014
02. November 2014
Albrecht Dürers "Kreuztragung Christi" (Große Passion)
Vorgestellt von: Prof. Dr. Thomas Noll
Vor seiner zweiten Reise nach Italien hatte Albrecht Dürer in den Jahren um 1496 bis 1500 sieben großformatige Holzschnitte zur Passion geschaffen und als Einzeldrucke vertrieben. 1510 ergänzte er diese Folge um weitere vier Blätter und veröffentlichte sie, noch mit einem Titelblatt versehen, 1511 in Buchform im Folio-Format. Den Holzschnitten jeweils auf der rechten Seite (recto) stand dabei links (verso) eine Erläuterung des Geschehens in lateinischen Versen gegenüber, die zu diesem Zweck der gelehrte Mönche Benedictus Chelidonius aus dem Nürnberger Schottenkloster St. Egidien aus verschiedenen älteren Autoren zusammengestellt und durch eigene Überleitungen verknüpft hatte.
Die anspruchsvolle und repräsentative Publikation der "Großen Passion" (wie die Bildfolge bezeichnet wird zur Unterscheidung von einem Zyklus von 36 Holzschnitten zur Passion im kleineren Oktav-Format, den Dürer ebenfalls 1511 in Buchform und mit Versen von Chelidonius herausbrachte) konnte der Künstler zusammenbinden mit einer Neuausgabe seiner Holzschnitte zur Apokalypse (zuerst 1498) und mit einem Bildzyklus zum Marienleben, die beide ihrerseits 1511 erschienen. Die "Drei Bücher" dokumentierten in denkbar eindrucksvoller Weise Dürers Leistungen als Graphiker. Tatsächlich bedeuteten bereits seine Illustrationen zur Apokalypse 1498 einen Entwicklungssprung gegenüber den Illustrationen von Michael Wolgemut und Wilhelm Pleydenwurff zur Schedelschen Weltchronik fünf Jahre zuvor, der noch die Verfeinerung der Holzschnitt-Technik von deren Anfängen im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts bis zu Wolgemut übertraf. Mit seinen späteren Blättern von 1510 aber übertraf Dürer um ein Erhebliches sogar sich selbst. Die Holzschnitte der "Drei Bücher" gehören damit zum Bedeutendsten, was überhaupt in dieser Drucktechnik geleistet worden ist.
Dabei gibt nicht zuletzt die "Große Passion" sich nach Form und Inhalt als ein Werk des Epochenwechsels zu erkennen.
Den künstlerischen Errungenschaften der italienischen Renaissance, wie sie vor allem in Dürers Blättern von 1510 glänzend aufscheinen, und den lateinischen Vers-Erläuterungen des Chelidonius als Zeugnis eines blühenden Humanismus, nicht zuletzt in Nürnberg, steht eine tiefe Verwurzelung der Passionsszenen in der spätmittelalterlichen Christus-Frömmigkeit gegenüber, die ihr Zentrum in einem andächtigen Nachvollzug des Leidens Jesu hatte.
Exemplarisch lässt sich dies in Dürers Holzschnitt der Kreuztragung fassen. Die prominente Darstellung der hl. Veronika mit dem Schweißtuch? die erst im späten Mittelalter ihre feste Statur bekommt?, die Wiedergabe auch des Simon von Zyrene wie von Maria und Johannes und überhaupt die Thematisierung des Kreuzwegs (der später als Via dolorosa bezeichnet werden sollte) bezeugen eine intensive Beschäftigung mit allen Einzelheiten des Lebens und Leidens Christi, wie sie kennzeichnend ist für das ausgehende Mittelalter. Dürers Blatt entstand kurz vor den ersten Kreuzweg-Anlagen? in Nürnberg verlief dieser Weg vom Tiergärtnertor bis zum Johannisfriedhof? und ist zu verstehen im Zusammenhang mit Pilgerreisen ins Heilige Land, wo der Leidensweg des Erlösers mit allen Begebenheiten Schritt für Schritt nachvollzogen wurde. Dürers Holzschnitt erweist sich vor diesem Hintergrund nicht zuletzt als ein Meisterwerk der Erzählkunst; denn nichts Geringeres leistet er, als die hauptsächlichen Ereignisse auf dem Kreuzweg? als eine Geschehensfolge in der Zeit? in seiner Komposition bzw. Konfiguration in Eins zusammenzuziehen. Für den Kunstfreund gab (und gibt) es viel zu sehen und für den andächtigen Betrachter, bei aller Augenlust, wohl noch mehr zu bedenken.