Presseinformation: Hilfe zur Selbsthilfe: Forscher fordern Umdenken bei Renaturierungsprojekten
Nr. 67 - 26.04.2019
Wissenschaftlerteam unter Beteiligung der Universität Göttingen analysiert Rewilding-Maßnahmen
(pug) Egal, ob einzelne Auenlandschaften oder ganze Nationalparks: Der Erfolg von Renaturierungsprojekten hängt nicht nur davon ab, ob einzelne Pflanzen- oder Tierarten wieder in einem Gebiet angesiedelt werden. Wie ein internationales Forscherteam unter Beteiligung der Universität Göttingen zeigt, geht es vielmehr darum, dem geschädigten Ökosystem zu helfen, sich selbst zu regenerieren und zu erhalten. Das Team unter Leitung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) und des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig zeigt, wie Rewilding-Maßnahmen besser geplant und umgesetzt werden können – und welche Vorteile sich daraus für den Menschen ergeben. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift Science erschienen.
Der Bau von Städten, Straßen oder Fabriken sowie die intensive Landwirtschaft haben die Natur weltweit stark in Mitleidenschaft gezogen. In der Folge wurden auch komplette Ökosysteme zerstört, wodurch die Artenvielfalt kontinuierlich gesunken ist. „Viele Ökosysteme sind deshalb heute nicht mehr in der Lage, wichtige Aufgaben wie den Hochwasserschutz zu erfüllen“, sagt Prof. Dr. Henrique Pereira von MLU und iDiv. Seit einigen Jahrzehnten gibt es weltweit Projekte, die darauf abzielen, bestimmte Regionen wieder naturnaher zu gestalten. Ein bekannter Ansatz ist dabei das sogenannte Rewilding. „Beim Rewilding richtet man den Blick auf das Ökosystem als Ganzes und versucht, durch gezielte Maßnahmen seine Funktionalität wiederherzustellen. Ziel ist ein Ökosystem, das sich auf lange Sicht weitgehend ohne menschliche Hilfe regeneriert und selbst erhält“, erklärt Erstautorin Andrea Perino, die in Pereiras Arbeitsgruppe an ihrer Promotion arbeitet. Gleichzeitig diene das Rewilding auch dazu, den Menschen den ästhetischen und ideellen Wert der Natur zugänglich zu machen.
„Natürliche Prozesse durch mehr Wildnis in unseren intensiv genutzten Kulturlandschaften zu fördern, ist ein faszinierender, aber auch gesellschaftlich umstrittener Ansatz“, sagt Co-Autor Prof. Dr. Tobias Plieninger vom Department für Agrarökonomie und Rurale Entwicklung der Universität Göttingen. Er hat in der Studie zur Diskussion der gesellschaftlichen Konsequenzen von Rewilding beigetragen. „Die Science-Studie weist Wege für ein zukunftsweisendes Design von ‚Rewilding‘-Konzepten auf, die auch unterschiedliche Interessen der betroffenen Akteure berücksichtigen.“ Ein prominentes Beispiel für ein erfolgreiches Rewilding-Projekt in Deutschland ist das Oder-Delta, eine Region an der Ostseeküste zwischen Deutschland und Polen am Stettiner Haff. Hier leben zahlreiche Tiere, zum Beispiel Seeadler, Wisente und Biber in freier Wildbahn. In dem Gebiet hat sich in den vergangenen Jahren ein lebendiger Naturtourismus entwickelt.
Die Forscher stellen in ihrer Studie eine Art Blaupause vor, wie Rewilding-Projekte geplant und umgesetzt werden können. Dabei fordern sie einen Perspektivwechsel: Es gebe nicht das eine ideale Ökosystem, das man durch bestimmte Maßnahmen herstellen könne. Stattdessen komme es viel mehr darauf an, die Funktionen des jeweiligen Ökosystems zu betrachten, die Störungen in diesem System zu analysieren, und daraus geeignete Maßnahmen abzuleiten. In einer Auenlandschaft könnten zum Beispiel nicht mehr benötigte Dämme entfernt und so zumindest ein Teil der Landschaft wieder verwässert werden. Dadurch entstehe womöglich wieder ein Lebensraum für Tiere und Pflanzen, die zuvor durch den Menschen vertrieben worden waren.
Originalveröffentlichung: Perino A. et al. Rewilding complex ecosystems. Science (2019). doi: https://science.sciencemag.org/content/364/6438/eaav5570
Kontakt:
Prof. Dr. Tobias Plieninger
Georg-August-Universität Göttingen
Department für Agrarökonomie und Rurale Entwicklung
Platz der Göttinger Sieben 5
37073 Göttingen
Telefon: (0551) 3921148
E-Mail: plieninger@uni-goettingen.de