Der Körper in der Erziehung des Nationalsozialismus (2003-2006)

Zu kaum einer Zeit seit der Antike wurde dem Körper innerhalb erzieherischer Prozesse derartige Aufmerksamkeit zuteil, wie in der Erziehung des Nationalsozialismus. Betrachtet man die pädagogische Historiographie zur NS-Erziehung, so wird ganz überwiegend der Eindruck erweckt, als habe es sich dabei vorrangig um eine Pädagogik der Gleichschaltung, Formierung und Militarisierung gehandelt, was auch und gerade für die Körpererziehung gelten müsste. Im vorliegenden Projekt wurde dieser Annahme anhand der (innerhalb der historischen Erziehungs- und Bildungsforschung immer noch stark vernachlässigten) Analyse historischer Fotografien nachgegangen. Dabei stand vor allem die Frage im Vordergrund, ob es so etwas wie einen nationalsozialistischen Körperhabitus gegeben hat, der sich an den fotografischen Darstellungen von Kindern und Jugendlichen ablesen lässt.

Anders als erwartet, zeigen die Fotografien ein weitaus uneinheitlicheres Bild von Körperlichkeit, als es die pädagogische Historiographie zum Nationalsozialismus nahelegt. Überraschenderweise gilt dies auch da, wo mit der weitgehend staatlich kontrollierten professionellen Fotografie das bewusste und beabsichtigte - kurz: das offizielle - Selbstbild der NS-Erziehung repräsentiert wird. Insbesondere die Darstellung der Mädchen und jungen Frauen gerät uneinheitlich und zum Teil widersprüchlich. Andererseits lassen sich auch bestimmte - männliche und weibliche - Idealtypen ausmachen, die bisherige Befunde bestätigen und erweitern.

Mit der Identifikation der dargestellten Typen oder der häufigen Anwesenheit von Uniformen, Emblemen und Symbolen allein lässt sich jedoch nicht der hohe Widererkennungswert von NS-Fotografien erklären, die ganz überwiegend auch von Laien historisch problemlos zugeordnet werden können. Einen möglichen Erklärungsansatz, was denn das genuine Moment der nationalsozialistischen Körperdarstellung in erzieherischen Kontexten ausmacht, bietet ein genauerer Blick auf die Ebene der Bildgestaltung. Diese zeigt das regelmäßige Bemühen der Fotografen (und/oder ihrer Auftraggeber) um die Einbindung des Einzelnen in strenge formale Strukturen, wie Diagonalen oder die - zumeist militärisch ausgerichtete - Ordnung von Gruppen, die zumindest in ihrer Vehemenz ein Spezifikum der NS-Fotografie zu sein scheinen.

Dieses Projekt wurde gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft.


Publikationen:


Schmidtke, Adrian (2012): Disziplin, Kontrolle, Grenzüberwindung: Die Formierung des Jungenkörpers in der Erziehung des Nationalsozialismus In: Bilstein, Johannes / Brumlik, Micha (Hrsg.): Die Bildung des Körpers. Weinheim: Beltz

Schmidtke, Adrian (2010): Körperbilder im pädagogischen und schulpädagogischen Bezug in Deutschland und der Schweiz 1930-1940. In: Hoffmann-Ocon, Andreas / Metz, Peter / Späni, Martina (Hrsg.): Schuljugend unter nationalem Anspruch. Schulpädagogische Publizistik und Visualisierungen in der Schweiz und in Deutschland zur Zeit der Krisen- und Kriegsjahre. Hohengehren / Zürich: Schneider / Petsalozzianum

Schmidtke, Adrian (2008): "Sportstudentin beim Diskuswurf". Die Konstruktion des Frauenkörpers in der Fotografie des Nationalsozialismus. In: Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 9(2), Art. 15, URL: http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/424/918

Schmidtke, Adrian (2007): Körperformationen. Fotoanalysen zur Formierung und Disziplinierung des Körpers in der Erziehung des Nationalsozialismus. Münster [u.a.]: Waxmann

Schmidtke, Adrian / Kraul, Margret (2006): Mädchen und Jungen in der Eliteerziehung des Nationalsozialismus. Eine Annäherung über Fotografien. In: Friebertshäuser, Barbara / Felden, Heide von / Schäffer, Burkhard (Hrsg.): Bild und Text - Methoden und Methodologien visueller Sozialforschung in der Erziehungswissenschaft. Opladen: Budrich, 239-260

Schmidtke, Adrian (2005): Der Wagenlenker: Chancen und Grenzen der ikonographisch-ikonologischen Einzelbildinterpretation im bildungshistorischen Kontext. In: Koch, Katja / Hoffman-Ocon, Andreas / Schmidtke, Adrian (Hrsg.): Dimensionen der Erziehung und Bildung. Göttingen: Univ.-Verl., 131-144