Nachruf auf Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Albrecht Schöne (1925-2025)

„Das Unbeschreibliche / Hier ist es getan“: Eine Silbe, ein einziger Buchstabe nur unterscheidet den drittletzten Vers in Albrecht Schönes Ausgabe von Goethes Faust von fast allen früheren Textfassungen. „Hier ists getan“, liest man dort, über hundertfünfzig Jahre lang. Aber das „ganz leise, verlangsamende Stocken“, so begründet Schönes Kommentar die Rückkehr zur Reinschrift, erscheine doch als „ein mit großer rhythmischer Sensibilität eingebrachter sprachlicher Ausdruck und Ausweis dafür, dass es in dieser letzten Szene doch um das ‚Unbeschreibliche‘ gehe“, also um einen letzten und mit äußerster Diskretion vorgebrachten Vorbehalt des Dramas gegen die eigene Form.

Der Literaturwissenschaftler Albrecht Schöne war zuerst ein Philologe. Sehr einverstanden war er mit Harald Weinrichs Formulierung, er repräsentiere eine „Reformation der Literaturwissenschaft“. Die kirchengeschichtliche Metapher sah 1982 im Methodenkonflikt zwischen Philologie und Rezeptionsästhetik eine säkularisierte Variante von katholischem und protestantischem Schrift- und Traditionsverständnis, in der Schöne auf dem lutherischen sola scriptura bestehe. Wer Literaturwissenschaft studieren wolle, so erklärte er seinen Seminaren und Vorlesungen, müsse imstande sein, an einem langen Abend dreihundert Seiten zu lesen – oder nur drei Verse.

Das philologische Ethos war nicht zu verwechseln mit der Selbstgenügsamkeit einer „textimmanenten Interpretation“. Die erschien ihm so unzureichend wie andererseits die Reduktion der Texte auf ihre Entstehungsumstände. Die Getreidepreise im Versmaß aufzufinden – das sei, so erklärte er Studienanfängern, „der Königsweg der Literaturwissenschaft.“ In der „Modellstudie zur sozialgeschichtlichen Entzifferung literarischer Texte“, die er 1975 am barocken Beispiel entwickelt hat und deren Titel Königsberg und Kürbishütte die Formel von den Hütten und den Palästen variiert, plädiert er für ein Verstehen des Textes, das „die gesellschaftlichen Bedingungen seines Zustandekommens und die Möglichkeiten seiner Wirkung als ihm eingestaltet, also als Elemente des Textes erfasste.“ Das war ein zugleich philologisches und kulturwissenschaftliches Programm.

Tatsächlich hat Albrecht Schöne von Beginn an die Literatur- als eine Kulturwissenschaft begriffen und praktiziert. Das mediengeschichtliche Phänomen der Emblematik mit ihren Kombinationen von Bild, Text und Theaterbühne machte seine 1964 veröffentlichte Habilitationsschrift über Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock als Epochensignatur kenntlich. Epoche machte auch dieses Buch selbst, in seinen kulturgeschichtlichen wie in seinen methodischen Perspektiven – und weil es sich, dem gelehrten Titel zum Trotz, als packende Spurensuche las; Hermeneutik als detektivisches Abenteuer. Sozial- und mentalitätsgeschichtliche Zusammenhänge erschloss vier Jahre später ein Buch, dessen Titel sprichwörtlich wurde: Säkularisation als sprachbildende Kraft. Werke von Gryphius und Lenz, Bürger, Gotthelf und Benn las Schöne darin als „Dichtungen deutscher Pfarrersöhne“, die mit dem Wechsel vom Pfarrhaus in die Poesie ebenjene Formen einer produktiven Säkularisation entwickelt hätten, der „Typologie“ am Ende dieser Lektüren stand. Aus einer Fernsehreihe ging dann 1974 ein Buch hervor, das zeitgenössische Literatur im audiovisuellen Medium an praktischen Beispielen erörterte und das selbst als ein mehrteiliges Drehbuch auftrat: die Veränderungen der Texte und ihrer Rezeptionsmöglichkeiten auf dem Fernsehschirm.

Noch das große Spätwerk Der Briefschreiber Goethe, entstanden im Laufe eines halben Lebens und erschienen 2015, beschreibt Goethes souveräne Spiele mit den kommunikativen Bedingungen des Mediums Brief vom Sturm-und-Drang bis in den letzten Brief des Sterbejahres 1832. Unaufdringlich erzählt Schöne dabei auch Goethes Biographie, indem er in den Briefen die intimen wie die gesellschaftlichen „Bedingungen ihres Zustandekommens“ noch einmal „als Elemente des Textes“ sichtbar macht.

Mit seinem Bemühen um neue Zugänge zu alten Texten hatte Albrecht Schöne von Beginn an Kontroversen ausgelöst. Wer sich an den alten und immer noch jugendlichen Meistergermanisten als ein weltweit und quer über die Grenzen der Fächer, Theorien und Methode hinweg bewundertes Vorbild erinnert, kann kaum noch ermessen, wie provokativ seine frühen Arbeiten wirkten – dies zumal, da er sie von diesen Anfängen an eine Öffentlichkeit adressierte, die weit über das eigene Fach hinausreichte. In einem aufsehenerregenden Vortrag von 1965 etwa rechnete er, der als junger Mann erklärtermaßen selber die Verführungskraft der NS-Ideologie miterlebt hatte (in seinen Lebenserinnerungen hat er 2020 auch davon erzählt), mit dem Fortleben völkischer und faschistischer Denk- und Schreibweisen in der Germanistik der Nachkriegszeit ebenso scharf ab wie mit der Apologetik der nun ‚konservativ‘ gewendeten alten Kämpfer. Dass er im selben Atemzug die dialektische Lyrik Brechts lobte (und sie zugleich dort kritisierte, wo sie sich der Parteilinie gefügig machte), dass er überdies seine öffentliche Antrittsvorlesung über Brechts Theater hielt – das trug ihm mitten im Kalten Krieg Anfeindungen ein, die im Vorwurf eines einstigen SA-Dichters kulminierten, Schöne rede „mit dem ganzen Hass des Linksradikalen von heute“. Das Bändchen über Politische Lyrik im 20. Jahrhundert, in dem Vortrag und Kontroverse nachlesbar sind, wurde zu einem Longseller. Dass ausgerechnet dieser Aufklärer der Rebellion von 1968 mit seinem Beharren auf den Texten als Feindbild erschien, war ein kapitales Missverständnis; es hat ihn tief und nachhaltig getroffen.

Neuauflagen seiner Bücher über Goethes Götterzeichen, Liebeszauber, Satanskult und über die Lichtenberg’schen Konjunktive nahm Schöne als Gelegenheit, mit seinen Kollegen und Kritikern streitbar über solche methodischen Grundfragen zu diskutieren. Beide erschienen, staunenswert genug, gleichzeitig – im selben Jahr 1982, in dem mit Albrecht Schöne zum ersten Mal ein deutscher Staatsbürger zum Präsidenten der Internationalen Germanisten-Vereinigung IVG gewählt wurde. Mit ihm hatte eine lange als kontaminiert geltende deutsche Germanistik unbestrittene Weltgeltung erlangt. Die literaturwissenschaftliche Leidenschaft der beiden Bücher, die zu seinen meistdiskutierten Werken gehören, ging Hand in Hand mit der Leidenschaft für die Debattenkultur einer weltweiten Germanistik. Dass sie – wie er es für die Diskussionen seines Doktorandenkolloquiums als Regel ausgegeben hatte – zwar „suaviter in modo“ geführt werden sollte, aber durchaus „fortiter in re“, das markierte schon die Überschrift, unter die er den Göttinger Weltkongress stellte: Kontroversen, alte und neue.

Damals schien Albrecht Schöne auf dem Höhepunkt seiner glanzvollen Laufbahn zu stehen. Und doch hatte er schon längst neu angefangen: mit der großen kommentierten Neuausgabe von Goethes Faust, die 1994 endlich erschien und deren Wirkung ein Rezensent mit derjenigen der vom Staub der Jahrhunderte gereinigten Sixtinischen Kapelle verglich. Goethes Weltgedicht als Werk der „Weltliteratur“ im vollen Ernst dieses Goethe’schen Begriffs zu verstehen, in der Polyphonie der in ihm mitredenden Stimmen aller Jahrhunderte und Genres: Das war die praktische Verwirklichung des Programms, das Schöne ein literaturwissenschaftliches Leben lang entwickelt hatte, in einer beispielhaften Spannweite der Texte und Themen und in einer Sprache, die sich an wissenschaftlich anspruchsvolle Lesende ebenso richtete wie an Laien und Liebhaber.

Regenbogen auf schwarzgrauem Grund – dieses Goethe’sche Bild entzifferte Schöne in einem Vortrag in der Göttinger Aula 1978 als Emblem einer Hoffnung, die über die Sterblichkeit hinausreicht. Kurz vor seinem 100. Geburtstag ist Albrecht Schöne im Mai 2025 gestorben. Das Seminar für Deutsche Philologie und die Universität Göttingen werden ihn nicht vergessen. Denn was Literaturwissenschaft heute zu tun vermag: „Hier ist es getan.“

Heinrich Detering